Diese CD ist ein einmaliges Ereignis. Vergangenheit und Gegenwart, versunkene jiddische Kultur und modernes französisches Musikleben, russische Seele und stalinistische Unmenschlichkeit – alles ist darin musikalisch exzellent und emotional tiefgehend erhalten.
Im Jahre 1975 hatte die aus Moldawien stammende, damals 56-jährige Dina Vierny, im Alter von 15 Jahren letztes Modell und Muse des berühmten Bildhauers Aristide Maillol, eine Sammlung von aktuellen Liedern der sibirischen Gulag-Gefangenen veröffentlicht; die auf dem französischen Label Pathé Marconi erschienene LP »Chants Des Prisonniers Sibériens D'Aujourd'hui« (2C 068-96179) ist längst vergriffen und nach meiner Kenntnis nie als CD erschienen.
Die junge, 1984 (!) in Paris geborene Newcomer-Sängerin Noëmi Waysfeld, deren Eltern russischer, baltischer und polnischer Herkunft sind, erarbeitete sich das Repertoire dieser alten Vinylplatte für ihre erste eigene CD und für ihr Konzertprogramm »Kalyma« neu. Ergänzend fügte sie jiddische Lieder hinzu, die von ähnlich tragischen Erfahrungen erzählen: von Misere, Schmerz, Gefängnis und Nostalgie, aber auch von Hoffnung, Frieden und Freiheit. Die Waysfeld hat auf diese Weise ein Songprogramm entwickelt, das weit entfernt von den seit zwanzig Jahren modischen Klezmer-Klischees ist und kaum etwas mit den Experimenten der New Yorker John-Zorn-Tzadik-Szene zu tun hat (Ausnahme: David Krakauer spielt als Gast auf der CD mit).
Die Waysfeld vereint, wie Stefan Franzen treffend schreibt, »Jazzattitüde mit Shtetl-Hinterhof, Orientalismen und Mediterranes mit dem Blues der sibrischen Steppen«. Mit ihrer ausdrucksstarken, samtigen Stimme transportiert sie sehr berührend die Wehmut der Musik, deren gelegentliche Chansonhaftigkeit ebenso wie eine manchmal aufblitzende bittere Lustigkeit. Die Musikanten ihrer Band Blik scheinen Allroundkönner zu sein. Akkordeonist Thierry Bretonnet ist offenbar ein »Hans Dampf in allen Gassen«, was Folklore aus vielen Richtungen der Welt angeht, er erzeugt rasante Melodiekaskaden ebenso wie sanft hauchige Tontupfer. Ein weites Spektrum an Klängen und Melodien zaubert der an klassischer Gitarre trainierte Florent Labodinière, der mit einfühlsamen Begleit- und Solo-Passagen auch auf der Bouzouki und der arabischen Oud zu faszinieren weiß. Und Antoine Rozenbaum schafft ein bewegliches Bassfundament, das ziemlich jazzbeeinflusst wirkt.
Alles in allem: eine Musik mit Bedeutung, ein Muss für Zu-Hörer.
Mathias Bäumel
Mittwoch, 26. September 2012
Johanna Elina: »Our Garden«, Divine Records 2012
Besonders die Melodien machen es! Etwas wehmütig, auch nachdenklich wirkend, durchaus eingängig und mit Mitsumm-Qualität, nie aber plump oder gar aufdringlich, erinnern sie manchmal an die Melodik eines Helge Lien (z. B. der Titelsong) oder die von Songs Patricia Barbers (besonders »First Time Love«).
Die in Dänemark lebende Finnin Johanna Elina fasziniert mit ihrem zeitgenössischen »Indie-Vocal-Jazz«, der einen Touch eleganter Popmusik mitbekommen hat. Johanna schreibt ihre eigene Musik – und genau das macht sie stark – und fängt mit ihr verquere, liebevolle, aufregende, traurige und manchmal sogar quälende Emotionen aus dem Alltagsleben ein.
Das ginge nicht ohne ihre warme, betörende, relativ tiefe Stimme, die sie auch technisch exzellent einsetzt.
Und das ginge natürlich auch nicht ohne Johannas Musikanten-Team, das in jeder Hinsicht überzeugt. Die Musiker aus der Multi-Kulti-Truppe kommen aus Schweden, Norwegen, Dänemark und Italien; der Klang der Band ist sehr homogen und nuanciert, die Soli sehr differenziert und äußerst gestaltungsstark.
Jazzlieder, wie sie sein sollen.
Mathias Bäumel
Die in Dänemark lebende Finnin Johanna Elina fasziniert mit ihrem zeitgenössischen »Indie-Vocal-Jazz«, der einen Touch eleganter Popmusik mitbekommen hat. Johanna schreibt ihre eigene Musik – und genau das macht sie stark – und fängt mit ihr verquere, liebevolle, aufregende, traurige und manchmal sogar quälende Emotionen aus dem Alltagsleben ein.
Das ginge nicht ohne ihre warme, betörende, relativ tiefe Stimme, die sie auch technisch exzellent einsetzt.
Und das ginge natürlich auch nicht ohne Johannas Musikanten-Team, das in jeder Hinsicht überzeugt. Die Musiker aus der Multi-Kulti-Truppe kommen aus Schweden, Norwegen, Dänemark und Italien; der Klang der Band ist sehr homogen und nuanciert, die Soli sehr differenziert und äußerst gestaltungsstark.
Jazzlieder, wie sie sein sollen.
Mathias Bäumel
Nils Weinhold: »Shapes«, Selbstverlag 2012 (Bezug: Amazon, CDBaby)
Melodisch schillernd und vielfältig, kompositorisch dicht »gestrickt« und solistisch exzellent – so präsentiert sich das Erstlings-Album »Shapes« des jungen Komponisten und Gitarristen Nils Weinhold.
Geschult im Bundesjazzorchester (BuJazzO) unter Peter Herbolzheimer von 2005 bis 2007, sammelte Nils eine Menge Erfahrung in Holland (offenbar prägend der faszinierende Gitarrist Jesse van Ruller!) und in den USA, wo er seit einigen Jahren überwiegend lebt und 2010 an der Manhattan School of Music nach Studien bei Phil Markowitz (der vier Jahre in Chet Bakers Gruppe spielte), Dave Liebman, Chris Rosenberg und weiteren seinen Master Degree erhielt.
Als Sideman mit allen Wassern gewaschen (er spielte für Seamus Blake, Joe Lovano, Joey Calderazzo, Jane Monheit und vielen, vielen weiteren) zeigt Weinhold nun mit »Shapes« erstmals als »Chef«, wie sich seine eigene Musik anhört.
Beispielhaft dafür könnte die Komposition »Forgotten Plains« stehen. Exzellente motivische Entwicklungen (anfangs getragen von den Saxofon-Linien Adam Larsons), zunächst etwas europäisch-melancholisch wirkend, eröffnen weite Gefilde für melodische Improvisationen vor allem für Gitarre und Saxofon, die sich später dann ins Jubilierend-Euphorische, »ami-haft« Klingende entwickeln, um schließlich ins Nachdenkliche zurückzukehren. Strukturell erinnert mich manches an frühere Musik Tim Bernes, motivisch schimmert eine Art Unplugged-Fusion-Musik auf, gitarristisch leuchtet Jesse van Ruller und die Ästhetik des Labels Criss Cross auf.
Für Hörer, die Substanz statt Mode, die Detailqualität statt große Geste mögen, ist diese CD eine Top-Empfehlung.
Mathias Bäumel
Geschult im Bundesjazzorchester (BuJazzO) unter Peter Herbolzheimer von 2005 bis 2007, sammelte Nils eine Menge Erfahrung in Holland (offenbar prägend der faszinierende Gitarrist Jesse van Ruller!) und in den USA, wo er seit einigen Jahren überwiegend lebt und 2010 an der Manhattan School of Music nach Studien bei Phil Markowitz (der vier Jahre in Chet Bakers Gruppe spielte), Dave Liebman, Chris Rosenberg und weiteren seinen Master Degree erhielt.
Als Sideman mit allen Wassern gewaschen (er spielte für Seamus Blake, Joe Lovano, Joey Calderazzo, Jane Monheit und vielen, vielen weiteren) zeigt Weinhold nun mit »Shapes« erstmals als »Chef«, wie sich seine eigene Musik anhört.
Beispielhaft dafür könnte die Komposition »Forgotten Plains« stehen. Exzellente motivische Entwicklungen (anfangs getragen von den Saxofon-Linien Adam Larsons), zunächst etwas europäisch-melancholisch wirkend, eröffnen weite Gefilde für melodische Improvisationen vor allem für Gitarre und Saxofon, die sich später dann ins Jubilierend-Euphorische, »ami-haft« Klingende entwickeln, um schließlich ins Nachdenkliche zurückzukehren. Strukturell erinnert mich manches an frühere Musik Tim Bernes, motivisch schimmert eine Art Unplugged-Fusion-Musik auf, gitarristisch leuchtet Jesse van Ruller und die Ästhetik des Labels Criss Cross auf.
Für Hörer, die Substanz statt Mode, die Detailqualität statt große Geste mögen, ist diese CD eine Top-Empfehlung.
Mathias Bäumel
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